Vögel können sich gut einschmuggeln – Nachruf Gotthelf Schlotter / Von Roland Held – 05.08.2007

Der Darmstädter Bildhauer und seine subversive Kunst

Eigentlich hatte Gotthelf Schlotter allen Grund zum Stolz auf seine Leistung. Als Exponent der Tierplastik setzte er eine große Tradition fort, die sich auf August Gaul und Philipp Harth berufen konnte. Zahlreiche öffentliche Aufträge sorgten dafür, dass ihm die finanziellen Engpässe vieler Kollegen weitgehend erspart blieben.

Seine Arbeiten stehen verstreut auf öffentlichen Plätzen und in Grünanlagen, in den Foyers von Verwaltung und Industrie weit über die Region, ja über Deutschlands Grenzen hinaus; andere schmücken private Sammlungen. Trotzdem war er im persönlichen Umgang uneitel, bescheiden, dazu geneigt, das Eigene zu differenzieren und zu relativieren, sich lieber lapidar über die handwerklichen Aspekte und den notwendigen Architekturbezug eines Werks auszulassen als über die hohe Kunst.

In der Nacht vom Freitag auf Samstag ist Gotthelf Schlotter im Alter von 84 Jahren in seinem Haus in Darmstadt gestorben. Die Beerdigung ist diesen Mittwoch auf dem Alten Friedhof. Ein Tumor im Bein machte ihm zuletzt das Laufen im Haus und im Atelier zur Last. Eine Amputation wurde von den Ärzten erwogen und schließlich verworfen.

Gotthelf Schlotter kam 1951 nach Darmstadt und zimmerte das Mobiliar für den im Aufbau begriffenen Künstlerkeller: massive Eichentische und –bänke, solide genug, dass sie die Jahrzehnte überdauert haben.

Das Handwerkliche war ihm sozusagen in die Wiege gelegt: Am 24. Dezember 1922 wurde er in Hildesheim als Sohn eines Holzbildhauers und Kunstlehrers geboren, und von seinem Vater erfuhr er die erste praktische Unterweisung. Er besuchte die Kunstgewerbeschule und wurde 1941 Soldat; seine Fronterfahrungen ließen ihn als überzeugten Anti-Militaristen zurückkehren und skeptisch werden gegenüber jeglicher Macht.

Es folgten nach eigener Bekundung „brutale Jahre“, wobei er sich und seine Eltern in der Lüneburger Heide mit allerlei bäuerlicher Plackerei über Wasser hielt. Im Alter von 27 begann er, von Krieg und Kriegsfolgen um viel Zeit geprellt, nochmals eine Schreinerlehre.

Mag sein, dass ihm spätestens da die Disziplin, die fortan seinen Arbeitsalltag bestimmen sollte, zur zweiten Natur wurde. Als ihn sein Bruder, der Maler Eberhard Schlotter, nach Darmstadt holte, wo ihn ein besseres wirtschaftliches Umfeld und kulturell interessante Kontakte erwarten würden, folgte er dem Ruf, doch – anders als viele, die später nachzogen – ohne besondere Illusionen. Die zum Atelier umfunktionierte alte Scheune in der Kranichsteiner Straße wurde zum Wohnhaus, als endlich ein geräumiges Separat-Atelier am anderen Ende des Gartens errichtet war.

Im nachhinein scheint es kaum glaublich, dass ein Zufall ihn zur Tierbildhauerei brachte: das Angebot, drei lebensgroße Figuren für das Schuldorf Bergstraße in Seeheim-Jugenheim auszuführen. Schlotter, vom Lande her mit Viehzeug vertraut, doch beileibe kein Zoologe, hatte ein Jahr Zeit, sich mit dem Thema zu beschäftigen, bis er „langsam spürte, auf dem richtigen Weg zu sein“, wie er sich Jahrzehnte danach erinnerte: „denn plötzlich begann die Ziege, die ich da modellierte, förmlich zu riechen.“

Die Schuldorf-Figuren waren noch in Betonguss ausgeführt. Charakteristisch für diesen Künstler wurde indes der Aufbau in Wachs für den späteren Bronzeguss, wobei ein kupfernes Armierungsgestänge, am Ende mitverschmolzen, garantiert, dass die teils sehr fragilen Formelemente Position und Stabilität wahren.

Schlotter, dessen primäres Werkzeug die knetende, streichelnde, anpressende Hand war, betonte gerne, er sei eher Plastiker als Bildhauer. Sein Arbeitsverfahren bestand die Bewährungsprobe, als sich das thematische Feld von Ziegen, Schafen, Rindern zunehmend verlagerte auf die unterschiedlichsten Vögel.

Eulen und Tauben, Pfauen und Hähne, Pelikane und Marabus, Flamingos, Strauße, Störche, Reiher und Kraniche hat Gotthelf Schlotter zu einer Existenz in dauerhaftem Erz verholfen, besonders die letztgenannten Arten – deren lange, dünne Beine, Hälse und Schnäbel sowie die weiten, variablen Fittiche ihn bereits als Naturgegebenheit reizen mussten. Er gab Vögel wieder bei der Balz, beim Tanz, im Gleichschritt bei der Parade, beim Kampf, im Aufflattern, bei der Landung wie auch mitten im Flug – dank einer Schwerkraft überwindenden Kunst der Illusion. Man kennt von Schlotter Einzelexemplare in bald gravitätisch-staksiger, bald drolliger Pose, worin sich menschliche Eigenschaften durchaus spiegeln können.

Besonderen Ehrgeiz legte Schlotter auf seine Vogelgruppen. In ungemein komplizierten Konstruktionen, die Türmen, Blüten, Spiralen, Fontänen, Balletten, Wirbeln oder regelrechten Wänden von Flugwesen gleichen, passte er Einzelform neben Einzelform, bezog er Kleinform auf Großform. Insofern steckt in Schlotters Vogel-Universum genug eigengesetzliche Gestaltungsstrenge, ja Abstraktion, um sein Schaffen abzuheben von der Tierbildhauerei des 19. Jahrhunderts.

Bewegung als ästhetisches Erlebnis wog ihm letztlich mehr als biologische Wiedererkennbarkeit. Nie hätte er es dem Betrachter abgenommen, ein Werk selbstständig zu deuten. Ausnahme blieb es, dass er einmal etwas so direkt aussprach wie 1985 die „Holocaust“ betitelte Pyramide dunkelbronzener Schädel, auf denen ein Rabe thront.

Gotthelf Schlotter arbeitete durchaus für die Öffentlichkeit; doch in der Öffentlichkeit zu stehen, war nicht seine Sache. Nur vorübergehend belastete er sich 1967 mit dem Vorsitz der Darmstädter Sezession. Ein Berührungspunkt zwischen Gotthelf Schlotter und der sonst auf höfliche Distanz gehaltenen Öffentlichkeit waren die Konzerte klassischer Musik, die er mit seiner Frau Friedel eifrig besuchte.

Der Jugendbuchforscher und Autor Klaus Doderer, der wohl profundeste Interpret des Schlotterschen Schaffens, hat einmal gemutmaßt, hinter der Grazie und Dynamik der vermeintlich überzeitlichen Vogel-Thematik verberge sich sehr wohl ein Appell an den Menschen von heute. Er sah die Tierplastiken als „Sinnbilder einer natürlichen Lebensbasis in uns“, von der unser zivilisatorisch-technisch geprägtes Umfeld uns zu entfremden droht. Jedes Schlotter-Werk, das Einzug hält in ein Amts- oder Firmengebäude, habe somit die subversive Funktion eines „trojanischen Pferdchens“, das ein Stück Kreatürlichkeit und Humanismus einschmuggelt.

Gotthelf Schlotter

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