1976 wollte Helmut Lortz einen Dada- Scherz erfinden. Und das kam dabei heraus: »Was wäre ich ohne mich?« Die posthume Antwort auf diese Frage ist sein hinterlassenes Werk und seine fortzeugende Theorie der experimentellen und angewandten Grafik, die er als Professor an der Hochschule der Künste Berlin in Generationen von Studierenden inseminiert hat.
Helmut Lortz war ein analytisch forschender Mensch, der allen Erscheinungen zwischen Himmel und Erde nachging bis auf den Grund. Und was fand er da: sich selbst. Nicht nur in seinen zahlreichen Selbstportraits, seinen Handdarstellungen und Fingerabdrücken tritt er uns mit Skepsis, Ironie und melancholischer Heiterkeit entgegen, in seinen Zeichnungen sehen wir mit seinen Augen eine von ihm verwunderte Welt und in der schwarzen Kunst seines professionellen Metiers leuchten die Geistesblitze seines Genies.
Die eschatologische Frage »Woher kommen wir, wer sind wir, wohin gehen wir« visualisierte er in einem lapidaren Sinnbild: zwischen zwei Fragezeichen ein gefiederter Pfeil, in dem sich die passagere Existenz des Menschen symbolisiert. Die Endlichkeit des Pfeilfluges bedrängte Lortz in den letzten Jahren. Zeitig hat er die Annoncierung seines eigenen Todes wohlüberlegt. Ein letzter Akt angewandter Grafik, ein doppeltes Resumée von Arbeit und Leben.
Die Anzeige ist oben und unten von zwei waagrechten Balken gefaßt, zwei Horizontalen, die dem Liegen unserer ersten und letzten Körperhaltung entsprechen. Es sind die Grenzschwellen des Lebens im Numinosen. Zwischen dessen Eckdaten ein Pfeil, der 86 Jahre, 9 Monate und zehn Tage eines großen Lebens durchfliegt. Und darüber zwei enigmatisch große, kleingeschriebene Konsonanten: nd. Erst wenn man sie lautlos buchstabiert, überfällt einen das im Rätsel versteckte finale Wort und verlangt Schweigen.
Helmut Lortz gehörte von Anbeginn der nach den Jahren der Kulturbarbarei erstandenen Neuen Darmstädter Sezession an. Und gestaltete über Jahrzehnte deren Kataloge, Plakate und Publikationen. Dabei griff er das 1919 von Ernst Moritz Engert für die revolutionäre Sezession geschaffene Sinnbild des Bogenschützen auf, das über die Jahre deren Emblem wurde. Der erste Entwurf von Helmut Lortz für die Jahresausstellung 1952 zeigt nur einen räumlich gesehenen Schwarm von Pfeilen. Ihre Bewegungsrichtung von links nach rechts ist analog unserem Schreibfluss zielstrebig auf das Künftige gerichtet Die Vielzahl der Pfeile signalisiert die Pluralität der als Bogenschützen gedachten Künstler, die gemeinsam das Neue in der Kunst anvisieren.
Dieser Entwurfsgedanke war einmalig, weil es galt, das Emblematische des Bogenschützen als ein immer wieder variiertes, aber als Erkennungszeichen der Sezession konstantes Signet zu etablieren. Im Bogenschützen ist der progressive Künstler versinnbildlicht, dessen kreative Spannkraft dem Pfeil Energie gibt, um als Fernwaffe des avantgardistischen Geistes Zeit und Raum zu überwinden, hin zu den Utopien der Kunst. Diese Idee hat Lortz – mit hunderten von Zeichnungen vorbereitet – in die anschauliche Mitteilbarkeit eines sich in der Gestalt wandelnden, aber im Kern konstanten Signets gebracht, das in all den Jahren die Sezession repräsentierte.
1997 hat das Institut Mathildenhöhe die verdienstvolle Ausstellung »Die Darmstädter Sezession 1919 -1997. Die Kunst des 20. Jahrhunderts im Spiegel einer Künstlervereinigung« gezeigt. Der sorgfältig bearbeitete, umfangreiche Katalog kann als Standardwerk gelten. Umso bedauerlicher ist der verballhornte Bogenschütze, der als Umschlagmotiv für Katalog und Plakat aufgenötigt wurde. Der damalige Institutsleiter ließ nach seinem Gusto die Fotografie eines eingeölten, bengalisch beleuchteten, nackten Muskel-Mannes anfertigen, der ohne Ahnung von der Technik des Bogenschiessens finsteren Blickes, unter gelgesträhntem Haar mit seinem Flitzebogen mittenmang ins Publikum zielt. Das war das unrühmliche Ende eines ruhmreichen Symbols. Es war eine Zumutung für die Sezession und eine Bitternis für Helmut Lortz.
Als Lehrer entwickelte Lortz anstelle der üblichen Gefallensästhetik eine vom Material ausgehende rationale Informationsästhetik. Von seinen Studenten verlangte er, daß die Probleme der grafischen Darstellung von Grund auf neu untersucht werden: »Man muß ausgehen vom Nullpunkt, als gelte es, das erste Plakat, die erste Anzeige, das erste Logo zu entwickeln.«
Analyse der Aufgabe und experimentelle Lösungsmöglichkeiten sind die ersten Schritte der Visualisierung. Dabei muß bewußt von einer möglichst geringen Anzahl von Variablen ausgegangen werden, deren Kombination im Gestaltungsprozeß schließlich zur nachvollziehbaren Mitteilung wird. Hervorragendes Beispiel für ein aus dieser Methode entwickeltes Logogramm ist das Signet, das Helmut Lortz für die Hochschule der Künste Berlin 1975 geschaffen hat. Damals wurden verschiedene Institute zu einer Hochschule mit neun Fachbereichen vereinigt. Das Signet sollte sich nach den Vorgaben »in den Rahmen des Berlin- Layouts einordnen lassen, sich trotzdem als selbständiges Signet einprägen können.« Als Ergebnis vieler Studien kam Lortz zu einem konsequent auf binäre Information purifizierten Logogramm. Es basiert auf einem quadratischen Rapport mit einem Raster von neun Punkten, der Anzahl der Fachbereiche. Dieser Rapport wiederholt sich vierfach in einem größeren Quadrat entsprechend der Anzahl der Anfangsbuchstaben der neuen Hochschule der Künste Berlin. Um diese Idee in der geringen Anzahl der Bitts noch lesbar zu machen, wählte Lortz die Kleinschreibung: h d k b. Von den insgesamt zur Verfügung stehenden 36 Plätzen sind 26 belegt, was der Buchstabenzahl der neufirmierenden Hochschule entspricht. Lortz hat das Signet, mit dem sich die Kunstschule sachlich und ästhetisch identifizierte, auf die puristischen Mittel der Informatik reduziert und mit der grafischen Choreografie einer Performance ein immaterielles, durchtelefonierbares Kunstwerk geschaffen. Seine Maxime war: »Ein Kunstwerk ist dann vollkommen, wenn man nichts mehr weglassen kann. Schön einfach – einfach schön.«
Helmut Lortz bereiste die Welt: Europa diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs, den nahen und den fernen Osten, die Vereinigten Staaten, und überall hatte er seine Kamera dabei. Aber die Bilder, die er mitbrachte, waren keine Veduten, sondern Wirklichkeitsausschnitte, die uns wenig über die bereisten Länder, aber viel über seine Sehweise sagen. Sein optisches Sensorium richtet sich auf einfache Dinge, auf Strukturen und Erscheinungen, die uns aus Gewohnheit und Nachlässigkeit der Wahrnehmung aus dem Blickfeld geraten sind. Im deutschen Pavillon der Weltausstellung Brüssel 1958 gestaltete Lortz mit Fotografien Wandtafeln zum Thema »Sehen.« Sie waren eine Anleitung zum genauen Hinschauen. Platanenrinde, Spinnennetze, Insektenflügel, Leitungsdrähte, Lichtreflexe, Kristalle und jene »Konjunkturen des Zufalls«, die Novalis als die »große Chiffrenschrift der Natur« bezeichnete. Das Okular der Kamera war das bewehrte Auge, das mithilfe des subjektiven Objektivs ein kleines Stück Universum als pars pro toto ins Anschauliche brachte.
Die Genauigkeit des Hinsehens und die forschende Beobachtung des Seienden und Escheinenden, waren für Lortz die Voraussetzung seiner analytischen Bestandsaufnahmen. Aus der Zerlegung des scheinbar Geschlossenen erfand er experimentierend ein paralleles Ganzes. Dabei verbrüderte sich das rational Empirische mit dem intuitiv Spielerischen. Zum Ergebnis sagte Lortz: »Man kann „wissen“, was ein eingesetztes Mittel auslöst, man kann sich „wundern“, was es auslöst.« Zum Konstatieren tritt das Staunen über die Doppeldeutigkeit des Faktischen und Fiktiven. Lortz erprobte unermüdlich die Möglichkeiten der Wahrnehmungspsychologie und erweiterte mit zahllosen Serien von Variationen und Permutationen das semantische Repertoire seiner Zeichenschrift. Damit brachte er die mehrdeutigen Ausdrucksqualitäten von Sachverhalten und Raumwahrnehmungen ins zeichnerische Spiel. Die Fragen »wie wirklich ist die Wirklichkeit« und »wie realistisch ist der Realismus« waren Thema des 11. Darmstädter Gesprächs 1978. Die langen, kontrovers geführten Diskussionen von Naturwissenschaftlern, Philosophen und Künstlern bescherten dem Publikum Ratlosigkeit. Die aber brachte Lortz mit seinem Signet auf den Punkt. In exakter Zeichenmanier hat er Dinge des täglichen Gebrauchs – nämlich Streichhölzer – dargestellt. So fraglos, wie wir sie auf den ersten Blick erkennen, so beunruhigend ist ihre Anzahl: mal sieht man drei, mal sieht man vier. Gewiss, mit den gezeichneten Streichhölzern kann man kein Feuer entfachen, aber der Lortzsche Genieblitz ist allemal zündend.
Das Vexatorische im Abbild hat Lortz bei seinen freien künstlerischen Arbeiten sehr beschäftigt und bei seinem ernsthaft heiteren Temperament konnten »erotische Fröhlichkeiten« nicht ausbleiben. Sich selbst sah er in einem Akrostichon so: »Heimlich Erklimmt Lust Mast Und Takelage«. Vom Mastkorb seiner Phantasie spähte er in den geliebten Odenwald und – o Wunder – die vertraut idyllische Landschaft verwandelt sich zum verwunschenen Tannhäuserland, zum grottenreichen Hörselgebirge. Hingestreckt räkelt sich wohlig der Landschaftskörper. Was sich atmend wölbt – wir ahnen es – ist der Busen der Natur. Und die Weggabelung, die sanft in einer Senke verschwindet, hat ihr Ziel unter einem bezaubernden Venushügelchen, das von Schlehen diskret verschattet ist. Und über allem schweben flüchtige Zeichen wie die Zeilen eines Liebesbriefes.
Das Poetische in den hingeschriebenen Zeichnungen entspricht der minimalistischen Lyrik, die Lortz beiläufig auf Sudelblättern notierte. So im Juli 1990: „Schwebende Lust / sucht Stelle und Ort / duftendes Gras / im Apfelbaumschatten / verströmt Stille. / Löwenzahn und Brennessel / berühren sich. / Wenn doch wer / wortlos den Tag träumt.”
Dieser »Wer« ist Helmut Lortz, der im Oktober1980 seinen Vornamen so buchstabierte: »Habe Ehrfurcht, Liebe Mächtig, Und Träume.« Deshalb will ich ganz ungeniert die liegende Figur unter dem Apfelbaum, die Lortz für ein Plakat von Büchners »Leonce und Lena« schuf als das wahre Selbstbildnis erklären. Der Prinz Leonce erträumte sich für das vereinigte Königreich Popo- Pipi einen epikureischen Musenstaat. »Wir lassen alle Uhren zerschlagen, die Kalender verbieten, und zählen die Stunden und Monate nur nach der Blumenuhr, nur nach Blüte und Frucht.«