Leo Leonhard – Ein Nachruf / Von Roland Held – 08.08.2011

In der Kulturgeschichte spricht man vom Poeta doctus, dem Dichter mit Bildung – wie Ezra Pound einer war. Leo Leonhard, zu dessen erstem Reifewerk ein Zyklus ebenso großformatiger wie großartiger Radierungen zu Ezra Pounds »Cantos« gehört, war ein Pictor doctus, ein Maler mit Bildung. Beim breiten Publikum mögen seine Landschaftsaquarelle kraft ihrer Verbindung von akribischer Dingschilderung und schwebend-leichtem Kolorit am populärsten gewesen sein. Sein lebhaftes Interesse an Dichtung und Theater, Geschichte und Politik jedoch spiegelte sich in den Zeichnungen und Radierungen, zuletzt auch in der nach langem Ruhen wieder aufgegriffenen Ölmalerei. Charakteristisch für ihn sind die schöpferischen Methoden der Paraphrase und des Palimpsests: dieses in der oft geradezu visionären Verschränkung unterschiedlicher Zeitschichten und Wirklichkeitsebenen; jene im Einblenden kunsthistorischer Zitate in einen modernen Kontext – oder umgekehrt. Mit Leo Leonhard, der nach einer Herzoperation im Alter von 72 Jahren verstorben ist, verliert die Kunstszene einen »Mann der reflektierenden Phantasie«, wie ihn Heinz Winfried Sabais einmal gelobt hat. Vor allem aber einen immens fleißigen, gut informierten, streitbar kritischen Protagonisten.

Es steckt ein Körnchen Prophetie im ersten Eindruck, den Leo Leonhard bei Hans-Günter Sperlich, einst Kustos der Kunsthalle Darmstadt, hinterließ, als er gegen 1970 bei diesem vorstellig wurde: »fast wie die Jünglingsgestalten der historischen Romantik im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts oder zumindest wie Klischees davon sie uns vorgaukeln«. Sperlich spielte damit gewiss nicht nur an auf die äußere Erscheinung, sondern – man denke an den frühverstorbenen Carl Philipp Fohr – auch auf die rare Begabung, die Erscheinungsformen der Welt in Liniengebilde zu bannen, exakt und doch klangvoll. Trotzdem übersah er an dem jungen Mann, der einem dreijährigen Germanistikstudium ein ebenso langes Studium an der Düsseldorfer Kunstakademie hatte folgen lassen und nun in den Schuldienst getreten war, nicht »den präzise registrierenden Blick, den kritisch abwägenden Verstand«. Hier nämlich ist es, wo jenes Körnchen Prophetie aufgehen sollte: In den siebziger Jahren machte Leonhard von sich reden mit detailgenau ausgefeilten, figurenprallen Ätzradierungen, die aktuelle Themen wie Umweltzerstörung, Jugendprotest, politische Repression und mediale Zerstreuungsindustrie aufgriffen. Während etwa Hieronymus Boschs Triptychon »Garten der Lüste« mit zeitgenössischen Szenen munter ummöbliert wurde, wetzte nebenan, im romantischen Wald- und Wiesenidyll, schon der Baubagger seine Zähne. Von solchen Einzelblättern wandte der Künstler sich in den achtziger Jahren einer gleichfalls oft surreal-mehrdeutigen literarischen Illustration zu. Casanova, Wieland, Goethe, Grabbe, und immer wieder Büchner – nicht von ungefähr bewegte sich Leonhard mit Vorliebe in der Epoche der Aufklärung und der Revolutionen. Als Ertrag sind uns viele bibliophile Buchausgaben und Mappenwerke geblieben.

Man muss diesen aufklärerischen Auftrag mitbedenken, wenn Leonhard selbst sich künstlerisch ganz als Realist sah. Im Sinne eines Realismus wohlgemerkt, der sich – obwohl es ihm technisch ein Leichtes wäre – nicht damit zufrieden gibt, Wirklichkeit fotografisch exakt zu reproduzieren. Der stattdessen abzielt auf die Durchdringung gesellschaftlicher und existenzieller Verhältnisse. So erklärt sich, weswegen Leonhard als leidenschaftlicher, argumentgewandter Antipode von Personenkult und Mystifizierung im Kunstbetrieb sowie besonders aller Aus-dem-Bauch-Maler auftrat. Auch sah er einen »Zusammenhang zwischen der systematischen Naturzerstörung und der Verachtung des Studiums der Naturerscheinungen« an den Akademien. Die so Gescholtenen warfen ihm ihrerseits schulmeisternde Plakativität, Pfriemelei, Rückwärtsgewandtheit vor. Und sahen sich vermutlich nur bestätigt, als er 1987 als Professor für Zeichnen an die Fachhochschule Mainz berufen wurde.

Neben den erwähnten Disziplinen pflegte Leo Leonhard die Kaltnadelradierung und den Holzschnitt. Zur Ölmalerei, deren altmeisterliche Lasurtechnik er bereits in der Jugend erlernt hatte, kehrte er erst Mitte der neunziger Jahre zurück, in dem Maße, wie er sich von den Lehrverpflichtungen freimachte. Dank des Einsatzes der Farbe wurde seine Basis breiter, sich per Zitat mit dem Erbe der Kunstgeschichte auseinanderzusetzen, bis zurück zu Giotto. Ein Motiv variierte er dabei mehrmals: eine Anstreicher-Kolonne übertüncht ein jahrhundertealtes Fresko blank-weiß. »Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit« – Leonhard dürfte dem Titel des Films von Alexander Kluge vorbehaltlos beigepflichtet haben. Er wollte, dann und wann tatsächlich etwas didaktisch, Zeichen setzen gegen das gedankenlose Zertrennen des Bands zur Vergangenheit, zur kulturellen Tradition.

Mitglied der Darmstädter Sezession seit 1969, empfand er sich in der Kunstszene doch als Einzelgänger, nicht ohne eine gewisse Bitterkeit. Der Dialog mit den alten Meistern nahm bei ihm mehr Platz ein als der mit den lebenden Kollegen. Doch war da ein anderer Dialog, auf den dieser Mann der Linie und Mann mit Linie unvermindert baute: die gegenseitige Befragung von Bild und Betrachter. Den nämlich sah Leonhard nicht weniger zu aktiver Interpretations-leistung aufgefordert als sich selber, wenn es ums Illustrieren eines Büchner-Dramas oder einer Kafka-Erzählung ging. Eine Arbeit, die ihren Lohn – intellektuell, aber auch sinnlich – in sich trägt. Ansonsten hielt Leo Leonhard es mit Hugo von Hofmannsthal, den er gerne zitierte: »Die Tiefe muss man verstecken. Wo? An der Oberfläche.«

Leo Leonhard

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