Ballistol / Von Michael Rieth – 09.08.2013

EINE ANEKDOTE ZUM 10. TODESJAHR VON SASCHA JURITZ

Der Künstler und Verleger Sascha Juritz, der vor zehn Jahren starb, hat auch heiße Eisen angefasst. Und wie er dabei vorging, erzählt der Frankfurter Autor Michael Rieth.

Der Anlass war kein fröhlicher, doch dank Pandoras bittersüßer List ein hoffnungsvoller. Sascha Juritz wollte ein Buch gestalten über den gestorbenen Dichter / Kritiker / Musiker / Theaterkonzipienten und vor allem den Menschen Wilhelm Liefland. Da ich in den letzten Jahren Wilhelm beruflich und privat sehr nahe gestanden hatte, frug Sascha um Texte an, die er gemeinsam mit eigenen Grafiken in einen Band seiner wunderbaren Pawel-Pan-Press einbinden wollte. Also wurden Beiträge von Freunden und Kollegen gesammelt, Erinnerungen, Assoziationen und Reflexionen, und als alles zueinander gekommen war, trafen wir uns bei Sascha in Dreieichenhain.

Mein erster Blick fiel auf seine Hand: Sie sah fürchterlich aus! Eine große Fläche war zu einem rötlichen Braun verfärbt, offensichtlich eine starke Verbrennung. Ja, meinte er, er sei beim Schweißen sekundenlang unachtsam gewesen; die Tönung sei allerdings nicht das Ergebnis dieses Missgeschicks, sondern der Effekt von Ballistol, das er zur besseren Heilung großflächig aufgetragen hatte.

Ballistol? Ich beroch seine Hand. Richtig: als Sohn eines Pistolenschützen (der immerhin 1960 die Olympiaqualifikation für Rom geschossen hatte) durfte ich früh beim Waffenreinigen zunächst zuschauen, dann mitwirken. Und so begleitet einen der unvergleichliche Geruch dieses unvergleichlichen Waffenöls durch die Jugend. Von einem Onkel, einem Schwarzwälder Jäger, wußte ich, dass er Ballistol als Wurmkur für seine Meute verwandte, die zwar sehr effektiv jegliches Gewürm abtrieb, dem Verdauungsapparat der Hunde jedoch nicht schadete. Auch als Insektenabwehr setzte Onkel Fritz es ein, wenn er an schnakenverdächtigen Weihern auf Anstand saß, doch von Ballistol als Mittel zur Behandlung offener Wunden hatte ich noch nie gehört.
Sascha lachte: Ballistol sei das Allheil- und Pflegemittel schlechthin. In letzter Zeit arbeitete er in seinem bildhauerischen Oeuvre sehr gerne mit Leder, das sei – noch vor Holz und Stein – sein derzeit liebstes Material, und nichts, aber auch gar nichts gäbe es auf der Welt, was Leder so geschmeidig hält, pflegt, und ihm vor allem diesen unvergleichlichen Schimmer verleiht, wie das sorgsame Behandeln mit Ballistol.

Da saß er in seinem dunkelbraunen Lederanzug und lachte. Froh, jemanden getroffen zu haben, dem das Zauberwort Ballistol etwas sagte, erzählte er – und Sascha konnte erzählen: Nicht nur davon, auf welch skurrilen Wegen er an dieses wunderschöne Hang-Grundstück kam, oder davon, wie, als er begann, die Mauern des neuen Domizils hochzuziehen, die Bewohner des Ortes samt Familien auf den üblichen Spaziergängen bei ihm vorbeiflanierten, „um zu sehen, ob der Künstler eine gerade Kante und einen sauberen Abschluss hinkriegt“; auch davon, wie er eines Tages beim Dorfschmied (so etwas gab es damals noch) hineinschaute und anfragte, ob er dessen Esse einmal benutzen dürfe, weil er eine Schmiedearbeit zu fertigen habe, und wie er dann samstags nachmittags vor dem Blasebalg stand, der alte Meister sich still in eine Ecke setzte, sein Feierabendpfeifchen anzündete und gemeinsam mit seinem Gesellen zuschaute, wie sich dieser Bildhauer wohl anstellte, wenn es sich um eine richtige Männerarbeit handelte. Was der verschmitzte Alte nicht wußte: Sascha war gelernter Schmied und hatte sein Handwerk noch in der DDR gelernt, dort wo Handarbeit noch länger Bestand hatte als in der modernisierten und damit traditionsfeindlich industrialisierten BRD. Des Meisters trockener Kommentar war lediglich: „In Ordnung, kannst wiederkommen!“

Und von Afrika erzählte er: davon, dass Ballistol Leben retten kann wie damals, als er in der Sahara zu einem Berber- oder Tuareg-Stamm kam, nicht wußte, ob dies eine forcierte Einladung oder eine sanfte Entführung war, und wie er dort zu einer alten Dame geführt wurde, die offensichtlich sehr hohes Ansehen genoss, und er ihren von einem fürchterlichen Abszess übermäßig angeschwollenen Unterarm gezeigt bekam, an dessen verfärbten und geschwollenen Adern man die fortschreitende Blutvergiftung erkennen konnte, und wie er dann – denn einerseits gab es weit und breit keinen Arzt, andererseits ist jeder Deutsche ein El Hakim – wie er dann so sehr gedrängt, ja genötigt wurde, diese Großmutter des Clans zu kurieren, dass es keinen Weg zurück gab.

Mit seinem schärfsten Messer schnitt er den Unterarm fast in der gesamten Länge auf, entfernte unfassbare Mengen an Eiter, behandelte die offene Wunde mit Ballistol und verband sie. Bei jedem Verbandswechsel applizierte er in den nächsten Tagen den Allheilbalsam Ballistol, die hoch verehrte Frau gesundete, und Hakim Sascha wurde behandelt wie Hakim Pascha.

Der Band über Wilhelm Liefland kam nie zustande. Als Sascha sich von Hanne trennte (der Genossin Dichterin, wie er sie nannte) und ein paar Dutzend Kilometer weiter ins Unterfränkische zog, verschwanden sämtliche Unterlagen und Manuskripte. Unser Kontakt schlief ein, ich hatte das Gefühl, Sascha miede mich – offenbar aus einem schlechten Gewissen heraus. Doch immer, wenn ich einen der so liebevoll edierten Bände der Pawel-Pan-Press in die Hand nehme mit Saschas vielschichtigen Grafiken, in deren Linien man stets Neues entdecken kann, deucht mir, als stiege aus dem Papier der Duft von Ballistol auf, durch Nase und Hirn direkt ins Herz.

Erstveröffentlichung: 09.08.2013 in Faust Kultur

Foto: Harry Oberländer

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