Jeder Künstler von Rang ist einzigartig. Doch es gibt in der Kunstgeschichte immer wieder das Phänomen der Künstlerfamilien. Es wäre aber falsch, die Anhäufung von Talenten in naher Verwandtschaft allein als Ergebnis genetischer Faktoren zu vermuten. Gotthelf SchlotterDas spezielle Milieu, das Beispiel, die kindliche Bewunderung, die elterliche Belehrung fördern die Begabung, aus der heraus sich in einem Prozess der Selbstfindung die autonome Künstlerpersönlichkeit entwickeln kann.
Gotthelf Schlotter ist der jüngere Bruder des Malers Eberhard, ein dritter Bruder, Georg, ist Goldschmied. Ihr Vater Heinrich war ein angesehener Holzbildhauer und Lehrer an der Kunstgewerbeschule Hildesheim. Sein Bruder Georg trat schon in jungen Jahren mit seiner starkfarbigen Malerei auf der Höhe der Zeit erfolgreich an die Öffentlichkeit. Er war erst sechsundzwanzig Jahre, als er 1915 im Ersten Weltkrieg sterben musste.
Eberhard und Gotthelf wuchsen in einem recht kargen Ambiente auf, das aber umso dichter von einer künstlerischen Atmosphäre durchtränkt war. Bilder und Plastiken, Gerätschaften und Materialien stimulierten ihre Phantasie und regten Wünsche an nach eigenem Tun. Eberhard betrachtete ehrfürchtig staunend die sorgsam verwahrten Malutensilien seines Onkels. Die Faszination war schließlich so dringlich, dass er heimlich sich daran versuchte. Der Vater hatte indess eine strenge, pädagogische Meinung. Er verlangte von seinen Söhnen, zuvörderst diszipliniert und methodisch die Grundlagen zu erarbeiten . Sie seien die unabdingbaren Fundamente einer freien, aber auch tragfähigen Kunstausübung. Er verbot Eberhard das Malen. Zeichnen, zeichnen, unablässig zeichnen verlangte er, der selbst ein guter Zeichner war. Er lehrte Gotthelf den Umgang mit Holz und unterrichtete ihn im Schnitzen. Schließlich bestand er darauf, dass beide Söhne eine Handwerkslehre mit Gesellenbriefabschluss absolvierten, Eberhard als Weißbinder, Gotthelf als Tischler. Zuvor erlitt Gotthelf 1941-45 die Schrecknisse des Krieges und die Entbehrungen der Gefangenschaft. 1946 konnte er nur ein Jahr an der Münchner Akademie bei Otto und Knappe studieren. Die Nachkriegsnot zwang ihn, im Bauhandwerk und in der Landwirtschaft zu arbeiten. Es kam ihm alsbald in den Sinn, selbständig und eigenhändig ein großes Werk zu schaffen ein Haus, das er seinen verehrten Eltern widmen wollte. In der Lüneburger Heide, nahe dem Dorf Bargfeld, gab es ein Grundstück, wo er von 1946-48 werkelte. Er fällte Bäume, sägte daraus Bauholz, das er zum Teil gegen Zement eintauschte, karrte Klinker aus Hildesheimer Ruinen heran, hackte den Mörtel ab, grub Lehm aus dem Waldboden, formte Ziegel, mauerte, verputzte, zimmerte Gebälk und Dachstuhl, schweißte und stellte schließlich selbst geschreinerte Möbel ins fertige Haus.
In diesen entbehrungsreichen Jahren lebte er in der Natur, mit der Natur und von der Natur. Zu seiner kreativen Begabung hatte er sich alle Tugenden zu eigen gemacht, die sein Vater forderte, und nicht wenige darüber hinaus: Hineindenken in die Formkräfte des Materials, diszipliniertes Arbeiten, Wertschöpfung aus Tradition, konsequentes Durchhalten. Und dann Einfühlsamkeit zum Lebewesen, vor allem ein aus existenziellen Nöten gewachsener Humanismus. Gotthelf war nun sechsundzwanzig, aber eine komplette Persönlichkeit, gereift für sein Ziel, ein Lebenswerk zu schaffen: die Welt seiner Bildnerei.
1951 holte ihn Eberhard, längst ein arrivierter Maler, nach Darmstadt und verschaffte ihm seinen ersten öffentlichen Auftrag. Es galt, für das zentrale Portal des in der Brandnacht 1944 zerstörten Kollegiengebäudes eine reich ornamentierte Tür zu schaffen. Die Aufgabe war anspruchsvoll, denn das 1780 von F. L. von Cancrin entworfene Gebäude wurde als einziges historisches Bauwerk im Herzen der Stadt denkmalgerecht rekonstruiert. Schlotter hat diese Aufgabe mit Bravour gelöst.
1952 erhielt er den Auftrag, für das unter neuen pädagogischen Gesichtspunkten mitten im Wald errichtete Schuldorf Bergstraße drei Tierplastiken zu schaffen. Sie sollten in einem Jahr fertig sein. Mit Bronze und Stein hatte Schlotter damals kaum Erfahrung. Beide Materialien wären ohnehin zu teuer für ihn gewesen. Deshalb experimentierte er mit einer Mischung aus Beton und Kunststoff, die sich eine zeitlang verarbeiten ließ, ehe sie wetterfest erstarrte. Er war kein an der Spezies interessierter Zoologe, ihm ging es um die lebendige Kreatur. »Als ich die Ziege modellierte«, erzählte er Freunden, »begann sie alsbald förmlich zu riechen«.
Das Figurative war in der damaligen, von der Abstraktion beherrschten Kunstszene zurückgedrängt. Und das Tier als Kunstfigur war höchst ungewöhnlich. Umso mehr fanden die Schlotterschen Plastiken Beachtung. Bald kamen Leute zu Schlotter, die derartiges für Haus und Garten in Auftrag gaben. Der Künstler hat sich immer Gestaltungsfreiheit ausbedungen. Handwerker-Ethos war für ihn selbstverständlich. Er führte den jeweiligen Auftrag so gut wie möglich für sich selbst und zur Zufriedenheit des kunstsinnigen Auftraggebers aus. »Bánausoi« – Handwerker – nannten in der Antike die Griechen jene Bildhauer, deren Werke wir bewundern. Handwerker waren die Künstler in den Bauhütten der mittelalterlichen Kathedralen, Handwerker die fabelhaften Stukkateure des Barock. Im 19. Jahrhundert sank das Ansehen des Handwerks und zugleich enstand das Schimpfwort vom »Banausen«. Schlotter war der Überzeugung, dass »die handwerkliche Grundlage, dieses Fundament, mir überhaupt erst die Chance eröffnet hat, für das was ich heute mit größter Selbstverständlichkeit mache«.
Zu den Charakterzügen Gotthelfs gehören die Fähigkeit zur Freundschaft und selbstlose Hilfsbereitschaft. In den fünfziger Jahren unterstützt er mich bei architekturbezogenen Aufträgen. So realisierte er nach meinen Entwürfen mit ästhetischem Einfühlungsvermögen ein großdimensioniertes Glas- und Natursteinmosaik im Foyer des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden und eine über zwei Stockwerke reichende Installation aus getriebenen Kupferplatten in der Zentralfeuerwache Offenbach. Zu rühmen ist seine menschliche Anteilnahme an Künstlerschicksalen. So sorgte er für den Romancier und Büchnerpreisträger Ernst Kreuder, der in einer alten Mühle in »Kranken-Höllen- Einsamkeit« hauste, bis zu dessen Tod. Und für den bedrohten, heimatlosen Schriftsteller Arno Schmidt richtete er 1959 sein Haus in der Heide als Refugium ein, in dessen Zettelkasten- Labyrinth er seine Sprachkünste elaborieren konnte.
Diese Leistung ist umso mehr zu rühmen, als Gotthelf die Dreissig schon weit überschritten hatte, die Zeit deshalb für die Entwicklung seines eigenen künstlerischen Werkes kostbar war. Er hatte sich feste Arbeitszeiten gesetzt, um sein vorgenommenes Pensum erledigen zu können. Deshalb wartete er nicht auf den Moment der Eingebung. Mit einer allgemeinen Vorstellung fing er an, begann den Möglichkeiten des Materials nachzuspüren, assozierte den sich ergebenden Formmöglichkeiten konkrete Gestaltungen und entwickelte aus dem Enstehungsprozess seine Kunstfiguren. »Durch diese Arbeit kommt die Eingebung und nicht umgekehrt«, sagte er in einem Interview.
Seinen Horizont konnte Schlotter durch Stipendien auf Reisen durch Nord-, Westund Südeuropa erweitern. Besonders anregend war ein mehrmonatiger Aufenthalt 1961in Mexiko. Er erzählte, dass er dort oft Häuser an Felshängen sah, die waghalsig auf Stelzen stehen. In deren Architektur, in ihrer Balance zwischen Baukörper und Stützen erkannte er eine Analogie zum Körperbau seiner Skulpturen. In der Folge arbeitete er an deren »Architektur«. Er variierte das Verhältnis Volumen und Gestelze vom Statischen zum Dynamischen. Die vertikale Ponderation von Last und Stütze als Moment der Ruhe spielte er in Einzelfiguren und seriellen Figurationen durch. Die diagonale Ausrichtung von Beinpaaren über den Vogelkorpus, dem ausgestreckten Hals zur Schnabelspitze zielt auf eine Bewegung, die von ausgebreiteten Flügeln in den Umraum gezogen wird. Schlotter abstrahierte also nicht die Naturform zur Kunstform, er ging umgekehrt von seinem Gestaltungsprinzip aus und verdinglichte im Entstehungsprozess die Kunstform zur Naturform.
Gotthelf Schlotter war konservativ im besten Wortsinne. Er blieb seiner Heimat Hildesheim und dem Leben in der Heide verbunden. Auch nach einem halben Jahrhundert in Darmstadt war in seiner Sprache nicht der leiseste Anflug des vokalreich verschleifenden südhessischen Idioms herauszuhören. Immer noch klingt das nordeutsche »s-pitze S« als Anlaut uns auffällig in den Ohren. Ansonsten hatte er sich rasch in die Darmstädter Szene eingebracht. 1952 hatte er den legendären Künstlerclub im Residenzschloss mitgegründet und das Mobiliar aus uralten Eichenbohlen gezimmert. Mit seiner Frau Friedel lieferte er in den Kellerfestspielen bejubelte Sketche. Von 1955 an war er Mitglied der Neuen Darmstädter Sezession und gehörte dem Vorstand seit 1962 an. 1967 wählten ihn seine Kollegen zum Ersten Vorsitzenden, ein Amt, das sein Bruder Eberhard von 1955-57 innehatte. Während seiner Amtszeit (bis 1970) wurden Ausstellungen im Schloss Fulda und im Wilhelm-Lehmbruck-Museum, Duisburg, veranstaltet. Auf seine Anregung hin wurde der Gründung der Sezession im Jahre 1919 in der 16. Jahresausstellung auf der Mathildenhöhe mit einer historische Sonderschau gedacht.
Gotthelf Schlotter war kein »Bildhauer« im klassischen Sinne. Sein Material war die ungeformte plastische Masse, der er bildnerische Gestalt gab. Schlotter war Plastiker par exzellence. Nach einem skizzenhaften Konzept richtete er ein Drahtgerüst her, an das er gewissermaßen Fleisch anmodellierte. Sein Ausgangsmaterial waren dünn gegossene Wachsplatten, die er mit den warmen Händen drückend, ziehend, stauchend ins Räumliche wölbte. Empfindlich tastend verwandelten sie blanke Oberfläche in lebendige Epidermis, in die Hülle eines animalichen Geschöpfs. Aus diesem Vorgang ergaben sich wie von selbst Formandeutungen, die er assoziativ weiterführte. Sorgsam beäugte er, was seine Hände somnambul anrichteten, kontrollierte und dirigierte sie hin zu einem im Grund nicht völlig vorbedachten Ergebnis. »In den Fingern steckt der Scharfsinn« , meinte Gustav Courbet. Bei Schlotter kamen die Augen hinzu.
Zur Seherfahrung meldeten sich Erinnerungsbilder, tauchten aus dem Erlebnisgrund Empfindungen auf. Und so kam es dahin, dass das Animalische aus dem Fond des Humanen entstand. Eulen schauen uns ebenso intensiv an, wie wir sie betrachten, und in diesem Dialog winken sie uns mit ihren Flügeln zu. Im Köpfezusammenstecken zweier Marabus vermuten wir ein philosophisches Kolloquium. Strauße vollführen ein Ballett, und unbekannte Vögel schnäbeln verliebt.
In einem langen Leben hat Schlotter eine ganz eigene Tierwelt erschaffen, kein zoologisches Reservat, sondern eine Menagerie der Phantasie. Aus ihr sind seine Geschöpfe in Parks, in öffentliche und private Gärten geflogen, haben in Museen und bei Kunstfreunden Behausung gefunden. Gotthelf Schlotter dachte nicht im Entferntesten daran, durch avantgardistische Attitüden Aufsehen zu erregen. Durch beharrliche und konsequente Arbeit hat er ein Lebenswerk geschaffen, das in seiner Einmaligkeit breite Anerkennung gefunden hat.
Schwere liegt in der Tektonik jeglicher Skulptur. Sie aufzuheben war ein Leitmotiv der schlotterschen Bildnerei. Voluminöse Körper hob er mit filigranem Gestelze vom Boden ab. Und mit flatterndem Flügelschlagen konnten seine Vogelschwärme der Gravitation entkommen. 1986 verdinglichte er den uralten Menschheitstraum vom Fliegen. »Ikarus« nannte er seine Skulptur , die nichts ist als ein einziger Aufschwung. Fliegen, nichts weiter. Die griechischen Mythen erzählten von Daidalos, der seinem Sohn Ikaros mit Federn und Wachs wundersame Flügel erfand. Mit ihnen konnte er der Erdenschwere entkommen. Erlöst schwang er sich in den Himmel, höher und höher über alle Grenzen, bis die Glut der Sonne das Wachs schmolz und Ikaros, der Fittiche beraubt, zurück zur Erde stürzte.
Mir scheint diese Skulptur eine Identifikationsfigur zu sein. Sie entstand durch die Transsubstanziation des Wachsmodells in der Glut des Gusses zur metallischen Gestalt – eine Wandlung der Materie zur Kunst. Flieg, Gotthelf, flieg steil in den Himmel!